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Ich vergebe - der radikale Abschied vom Opferdasein

Tippings Methode der radikalen Vergebung ist ebenso radikal, wie es der Name vermuten lässt. Tipping geht davon aus, dass alles Schlechte, was uns in unserem Leben widerfährt, nur ein Wink mit dem Zaunpfahl ist. Es soll uns nicht nur zeigen, welches unverarbeitete (Kindheits-) Trauma wir in unserem Unterbewusstsein mit uns herumtragen, sondern auch dafür sorgen, dass wir seelisch gesunden.

 

Anstatt, dass wir uns in der Operrolle suhlen und mit dem Finger auf die bösen Anderen zeigen, sollen wir ihnen dankbar sein, da wir durch sie die Möglichkeiten zum persönlichen Wachstum und zur Heilung erhalten.

 

Tipping erläutert seine Methode am Beispiel seiner Schwester Jill, die als Kind starke Verlassenheitsängste entwickelte und sich als Erwachsene immer wieder Männer suchte, die entweder fremdgingen oder auf andere Weise ihre Ängste schürten. Jill sollte erkennen, dass diese Männer dies nur taten, damit sie ihr Kindheitstrauma erkennen und durch radikale Vergebung heilen können.

 

Die Methode der radikalen Vergebung geht weit über normales Vergeben hinaus. Denn die Person, der etwas schlimmes widerfahren ist, soll lernen dem "Peiniger" auf tiefster seelischer Ebene dankbar dafür zu sein, dass er ihr zeigt, was es zu heilen gilt. Nach Tipping gibt keine bösen Personen oder bösen Taten, sondern alles, was geschieht ist vollkommen, so wie es ist, weil es nur passiert, damit die eigene Seele die Möglichkeit hat wieder ganz zu werden. Deswegen braucht es auch keine Vergebung, kein Verzeihen im herkömmlichen Sinn, sondern nur die radikale Aufgabe von Schuldzuweisungen und damit der Ausstieg aus der Opferrolle.

 

Was schlüssig klingt, wenn man alltägliche Probleme - wie den fremdgehenden Ehemann - betrachtet, wird für mich nur schwer akzeptabel, wenn es um den Vergewaltiger, Möder oder sogar Hitler geht.

 

Ich persönlich habe Mühe, wenn Tipping den Mord an 6 Mio. Juden im Holocaust als kollektive Möglichkeit zur Heilung des jüdischen Opferbewusstseins darstellt oder beschreibt, dass es vollkommene sei, wenn ein kleinen Mädchens, vergewaltigt und anschliessend grausam getötet wird, weil es eben der Weg ihrer Seele ist, um irgendein Trauma zu heilen. Nach Tippings Theorie bin ich damit noch vollständig im Opferdenken verhaftet.

 

Man kann Tipping nicht nachsagen, dass er seine Idee nicht zu Ende gedacht hat. Sie ist in sich schlüssig und bricht mit Konventionen. Wie er selber bemerkt, ist es aber für Viele (mich inbegriffen) nicht leicht seiner Methodik zu folgen, wenn grosses Leid (Vergewaltigung, Katastrophen, Mord u.ä.) damit verbunden ist. Zu sehr ist der Opferbegriff in uns verankert.

 

Nichtsdestotrotz ist Tippings Werk in sich schlüssig und lesenswert, für alle, die neue Perspektiven und einen Weg aus der Opferrolle suchen.

 

Colin C. Tipping

Ich vergebe. Der radikale Abschied vom Opferdasein.

ISBN: 978-3-933496-80-5

CHF 36.90